Die Teschener Aristokratin, die in Elend starb
- Jonasz Milewski
- 17. Juli
- 12 Min. Lesezeit
Die ganze Lebensgeschichte der Gräfin Gabriele von Thun und Hohenstein wurde in dem Prosawerk „Die gute Dame in einer schlechten Welt“ beschrieben, das auf Deutsch erhältlich ist. (Erfahre mehr)
Gabriele von Thun und Hohenstein wurde als „Die gute Dame aus Groß Kuntschitz“ in Erinnerung behalten. Diese Teschener Aristokratin war für ihre Wohltätigkeit und ihre Hingabe, besonders für Kinder, bekannt. Die kommunistische Macht nahm ihr alles außer dem Leben.

Ihr Herz schlug wie ein Hammer. Sie atmete schwer. Ihre in Seidenhandschuhe gehüllten Hände zitterten, was sie jedoch sorgfältig zu verbergen versuchte. Sie blickte auf Elisabeth, die am Fenster stand und nervös ein Taschentuch umklammerte. Obwohl die Frühlingssonne ihr Gesicht erhellte, lag kein Hauch von Freude darauf. Sie war verängstigt.
Gabriele erhob sich aus dem mit Samt gepolsterten Sessel. Sie nahm ihren Stock und begann mit langsamen Schritten im Salon auf und ab zu gehen. Es fiel ihr nicht leicht. Sie war fast 73 Jahre alt und verstand nur zu gut, was die mit dem Alter verbundenen Einschränkungen bedeuteten. Doch sie hatte sich nie beklagt. Das entsprach nicht ihrem Wesen. An ihre Mutter, die gestorben war, als Gabriele gerade einmal fünf Jahre alt gewesen war, erinnerte sie sich nur schwach. Doch sie hatte sich deren häufiges Sprichwort eingeprägt: »Erbarme dich der anderen, aber erwecke kein Mitleid.« Warum auch immer – plötzlich stand ihr die Gestalt der vor vielen Jahren verstorbenen Mutter vor Augen. Sie erinnerte sich an einige Augenblicke ihres letzten gemeinsamen Sommers. Es war damals das Jahr 1878. Im Schloss Groß Kuntschitz (heute Kończyce Wielkie), das ihr Zuhause war, standen die Türen immer offen. Viele Menschen kamen zu den Grafen Eugen und Maria Larisch-Mönnich. Sie liebten es zu helfen. Die kleine Gabriele und ihre beiden Schwestern Henriette und Fanny beobachteten die Mutter und fanden Freude selbst an den Picknicks, bei denen sie die Kinder aus der Umgebung bewirteten und mit Spielzeug beschenkten. Der plötzliche Tod der Mutter – und zwei Jahre später auch der Tod des Vaters – veränderten das Leben der drei Mädchen völlig. Sie verließen Kuntschitz, um nach Wien zu ziehen, wo sie bei ihrem Onkel Ferdinand Deym von Střítež lebten.

Gabriele lächelte in Gedanken bei der Erinnerung an jene unbeschwerten Kindheitsjahre. »Wie viel sich seit jener Zeit verändert hat«, dachte sie. »Onkel und Tanten sind vor vielen Jahren gestorben, das Kaiserreich existiert nicht mehr, und jetzt? Jetzt ist es besser, zu schweigen über das, was aus der Welt geworden ist.«
Gabriele trat zu Elisabeth, die am Fenster stand. Diese Frau hatte den größten Teil ihres Lebens im Schloss verbracht. Ende der Zwanzigerjahre hatte sie sich als Betreuerin der Enkelkinder der Gräfin angestellt. Nun war sie fast zwanzig Jahre im Schloss. In dieser Zeit hatten sie sich angefreundet.

Elisabeth blickte die Gräfin mit besorgtem Blick an.
– Ein Jagdflugzeug nach dem anderen fliegt vorbei, ständig hört man herabfallende Bomben, und das Knattern der Gewehrkugeln kommt immer näher – berichtete sie nervös, als ob der Blick aus dem Fenster ihr irgendwelche Informationen verschafft hätte.
– Elisabeth, atme tief durch. Mit Sorgen verlängern wir unser Leben nicht um eine Elle. Das weißt du doch – sagte sie und streichelte ihr über die Schulter.
– Ich weiß, Gräfin, aber es ist nicht so einfach, aufzuhören daran zu denken, was noch passieren könnte. Die Leute erzählten so schreckliche Dinge über die Sowjets… Für wen werden sie uns halten? Für Deutsche, für Polen, für Schlesier? Für wen werden sie Sie halten, Gräfin?
– Das Maß eines Menschen ist das Gute, das er getan hat, und das Böse, das er nicht getan hat – nicht die Sprache, die er spricht – sagte sie mit voller Überzeugung.
– So viel Gutes verdanken Groß Kuntschitz, Teschen, all die umliegenden Orte der Gräfin, so viel Gutes! Selbst jetzt, wo die Nazis unsere Welt so sehr auf den Kopf gestellt haben, gab die Gräfin den Menschen Arbeit und bot ihnen im Schloss Schutz, ohne auf die Gefahren zu achten.
– Elisabeth, das ist die Pflicht, die uns die Menschlichkeit auferlegt. Ein Fünkchen Heldentum steckt nicht darin – sagte sie gerührt, drehte sich dann um und ging mit langsamen Schritten zu dem Tischchen, auf dem eine Tasse Tee stand.

Gabriele holte tief Luft. Sie bemühte sich, die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, zurückzuhalten. Sie blickte auf das an der Wand hängende Porträt ihres vor vier Jahren verstorbenen Mannes. Graf Felix von Thun und Hohenstein stammte ebenfalls aus einer aristokratischen Familie. Sein Bruder Josef hatte mehrere Jahre lang das Amt des Präsidenten von Österreichisch-Schlesien zu Zeiten der Monarchie inne. Oft trafen sie sich im Familienkreis in Groß Kuntschitz, wo Gabriele Feierlichkeiten organisierte, bei denen sie die örtliche Bevölkerung und die Aristokratie in den Schlossgärten empfing. Unter der österreichischen Aristokratie organisierte sie Geldsammlungen und leitete diese dann an den Hilfsfonds für die Armen weiter. Noch im alten Österreich war der Geburtstag des Kaisers, der 18. August, ein Anlass dafür. Zum ersten Mal veranstaltete sie diese Feier im Jahr 1900. Damals wurde das Fest von einem Feuerwerk, einem großen Festessen und Geschenken für die Kinder begleitet. Nach dem Ersten Weltkrieg, als die Verwaltung von der Zweiten Polnischen Republik übernommen wurde, setzte sie die Tradition der Treffen fort. Felix betrachtete die Taten seiner Frau mit Bewunderung. Er unterstützte sie. Mit ihm hatte sie 48 glückliche Jahre verbracht. Oft ging sie auf den Friedhof von Groß Kuntschitz, um ihm wenigstens in Gedanken näher zu sein.
Gabriele griff nach der Tasse, aber sie kam nicht einmal dazu, einen Schluck zu trinken, denn die erschrockene Elisabeth rief: – Sie kommen!
Das Dröhnen der Motoren erfüllte den Schlossgarten. Ein Dutzend kleiner sowjetischer Militärfahrzeuge und mehrere Lastwagen fuhren auf den Hof. Einer der Soldaten schoss mehrmals mit der Pistole in die Luft. Die Gräfin befahl, alle im Hauptsalon zu versammeln. Sie wollte eine Konfrontation draußen vermeiden.

In wenigen Augenblicken versammelten sich Familie und Bedienstete um die Gräfin. Sie standen verängstigt im Salon im ersten Stock und warteten darauf, was geschehen würde. Gabrieles 14-jährige Enkelin Isabele ergriff ihre Hand. Der 17-jährige Erwein Junior, der älteste Enkel der Gräfin, trat nach vorne, um Mut zu zeigen. Seine Vorstöße wurden jedoch schnell von der 43-jährigen Anna, der unverheirateten Tante des Jungen, unterbunden.
Durch das angelehnte Fenster drangen neben den frischen Maiduft nun auch russische Flüche und lautes Gelächter herein. Plötzlich hörten sie einen gewaltigen Knall. Einer der Bediensteten meinte, die Sowjets hätten die Eingangstür aufgebrochen.
– Warum? Wir haben sie doch offen gelassen – empörte sich die schluchzende Anna, die Tochter der Gräfin.
In der Eingangshalle wurde es still. Man hörte nur noch das Klackern der Absätze des eintretenden Kommandanten. Der Offizier sah sich um. Sein Blick fiel auf die Büste des vor vier Jahren verstorbenen Grafen Felix von Thun und Hohenstein, die neben der Treppe stand. Er zog seine Pistole und schoss der Skulptur genau in die Stirn, sodass diese zertrümmert wurde. Dann lachte er laut auf. Die ihn begleitenden Soldaten brachen ebenfalls in lautes Gelächter aus.

Nach einem Moment begann der Offizier, seine Kameraden zur Ruhe zu bringen. Laut rief er:
– Rauskommen!
Die Gräfin, die sich im Hauptsalon im ersten Stock befand, holte tief Luft. Sie ging auf die Tür zu, die zu der Treppe führte, die mit der Eingangshalle verbunden war. Der junge Erwein ergriff die Hand seiner Großmutter.
– Ich gehe. Ich bin der Erbe des Schlosses, das ist meine Pflicht – sagte er mit zitternder Stimme.
– Bleib, mein Liebling… Wir wollen sie nicht provozieren.
Sie öffnete die Tür, woraufhin die sowjetischen Soldaten sofort ihre Waffen auf das obere Stockwerk richteten. Nach einem Moment erschien die Gräfin auf der Treppe. Sie sah den Kommandanten an. Es war ein etwa vierzigjähriger Mann mit strengem Gesichtsausdruck, in einer leicht verschmutzten Uniform. Er begann, die Treppe hinaufzusteigen, zusammen mit einem Dutzend bewaffneter Soldaten.
– Bist du nicht geflohen, du Schwabin? Du musst entweder sehr mutig oder sehr dumm sein – sagte er, während er sein Gesicht bis auf wenige Zentimeter an ihres heranbrachte. Die Gräfin antwortete jedoch nicht.
– Geh hinein, wir werden sehen, wen du hier versteckst – sagte er und schob sie dann leicht in Richtung des Salons.
Der Kommandant ließ seinen Blick über alle Anwesenden im Salon schweifen. Es waren etwa zwanzig Personen dort. Sie standen verängstigt mit gesenktem Blick. Nur der junge Erwein schaute die Sowjets wütend an. Der Kommandant bemerkte das. Er ging zu dem Jungen und drückte ihm die Pistole an die Stirn.
– So mutig bist du, du Dreckskerl? – spuckte er ihm ins Gesicht.
– Ihr seid hier nicht zu Hause – antwortete er mit zitternder Stimme, obwohl er sich bemühte, keine Angst zu zeigen. Der Offizier begann daraufhin zu lachen, schlug den Jungen mit der Faust in den Bauch und stieß ihn, sodass Erwein auf den mit einem eleganten Teppich bedeckten Boden fiel.
– Alle an das Fenster setzen. Wir werden uns ein bisschen unterhalten – befahl er. – Und ihr, Jungs, macht es euch bequem – fügte er hinzu und wandte sich zu den Soldaten.
Die Sowjets begannen sofort, die Schränke nach Alkohol zu durchsuchen. Sie rissen die Türen der Vitrinen heraus, zerschlugen das Glas in den Schränkchen und warfen Bücher, Familienandenken, Kristallgläser und Fotos von Familienmitgliedern auf den Boden. Einer von ihnen zielte mit seiner Pistole auf das an der Wand hängende Porträt der Gräfin und drückte ab. Die Kugel blieb in ihrem Auge stecken.
– So wirst du gleich aussehen, alte Schwabin – begann er zu lachen, entkorkte dann eine im Schrank gefundene Flasche Rotwein und begann zu trinken, während er sich selbst und den Teppich begoss.

Die Gräfin blickte voller Entsetzen. Innerhalb weniger Augenblicke sah der Salon aus wie nach einem Tornado. Die eleganten Mahagonimöbel waren zerbrochen, die zarten Plexiglasfenster zerstört und das Porzellan- und Kristallgeschirr zerschmettert. Unbezahlbare Gegenstände, die sie an ihre Eltern und Großeltern erinnerten, wurden vor ihren Augen vernichtet. Sie spürte einen heftigen Stich in ihrem Herzen, als sie mit ansehen musste, wie einer der Soldaten auch das Porträt ihrer Eltern zerstörte, die sie als Kind verloren hatte. Doch dabei blieb es nicht. Er griff zu einem Taschenmesser und zerschnitt die Gesichter auf dem Porträt ihrer Schwestern, das sie von Fanny an ihrem Polterabend geschenkt bekommen hatte.
– Hast du gut gelebt all die Jahre, indem du andere ausgebeutet hast? Solche wie ihr sollten hängen. Ihr seid widerlich. Ihr seid keine Menschen. Ihr seid Schweine, herausgeputzt in Gold, die sich gegenseitig anbeten. Dein Söhnchen ist ja prächtig erzogen worden. Graf Erwein von Thun und Hohenstein, ja? Was für ein Dreck musst du sein, dass du diesem Hurensohn die Lehren eingeflößt hast, die dazu geführt haben, dass er das ganze Dorf Ostrý Grún in der Slowakei ausgerottet hat. Niemand! Hörst du? Niemand hat überlebt! Er hat jeden einzelnen Bewohner getötet! – schrie der Offizier, während er durch den Salon schritt.

– Herr Offizier, die Gräfin ist der edelste Mensch, den ich in meinem Leben kennengelernt habe – warf die schluchzende Elisabeth ein. – Sie hat einen Krankenhauspavillon für Kinder gestiftet, führt seit über vierzig Jahren Wohltätigkeitsaktionen durch, hat das Teschener Rote Kreuz gegründet, den Freiwilligen Rettungsdienst ins Leben gerufen, füttert die Hungrigen und schützt obdachlose Kinder… Sie hat verwundete Soldaten bei sich aufgenommen, egal welche Sprache sie sprachen. Sie hat während des ganzen Krieges Bedürftige versteckt. Sie ist die Gute Dame in einer schlechten Welt… – Elisabeth sprach aufrichtig. Sie konnte sich nicht vorstellen, die Gräfin nicht zu verteidigen. Schon der Gedanke daran, dass die Sowjets ihr etwas antun könnten, erfüllte sie mit Angst.
– Die Gute Dame in einer schlechten Welt? – der Offizier begann höhnisch zu lachen.– Lass dich nicht täuschen. Im zaristischen Russland hielt sich jede Zweite für so etwas. Das sind gewöhnliche Schurken, die aus ihrem Überfluss heraus geben. Was ist daran gut? Und eine schlechte Welt? Ihre Welt war jeden Tag gut, weil sie ihr Glück auf dem Leid anderer gebaut haben. Die wahre Ordnung beginnt jetzt! – er hob den Kopf, doch in seinem Gesicht lag immer noch Verachtung.
Die Gräfin blickte den Offizier an. Ihr Herz schlug wie ein Hammer.
– Was erwarten die Herren von uns? – fragte sie so freundlich, wie sie nur konnte. Sie wollte den Offizier keinesfalls provozieren.
– Dummkopf! – prustete er vor Lachen. – Und was kannst du mir geben? Du hast doch nichts. Du bist ein Nichts, abhängig von mir. Davon, ob ich dich jetzt töte oder erst in einer Minute – er drückte ihr die Pistole an die Stirn. – Na, gnädige Frau. Entscheide. Jetzt oder gleich? – mit zusammengebissenen Zähnen drückte er den Lauf noch fester an ihre Schläfe.
– Nein, ich bitte Sie! – schrie Elisabeth. Sie ertrug den Anblick nicht und brach in Tränen aus.
– Halt den Mund! – brüllte er, dann nahm er die Waffe von der Schläfe der Gräfin weg. Auch sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, und sie liefen über ihre runzligen Wangen. Dieser Anblick schien dem Offizier deutlich Befriedigung zu verschaffen.
Langsam ging er zur Tür. Er blieb stehen. Neben ihm auf dem Toilettentischchen lag ein in Gold gerahmtes Pergament. Er nahm es in die Hand und begann zu lesen. Es war ein Gedicht, das Kaiserin Sisi vor über fünfzig Jahren eigens für Gabriele geschrieben hatte. Mit einer schnellen Bewegung zerriss er es und warf es auf den Boden, dann trat er darauf. Das Gold nahm er mit.
– Raus hier, sofort! – brüllte er.
Elisabeth sah die Gräfin an. Anna, Erwein Junior und Mausi blickten sich ebenfalls gegenseitig an. Sie fürchteten, dass es das Ende war. Vor ihrem inneren Auge tauchte die Vorstellung eines baldigen Erschießens vor dem Schloss auf.
– Raus! – schrie der Offizier noch einmal. – Raus, oder ich schlachte euch hier alle wie Hunde ab! – er geriet in Rage.
Die Gräfin machte sich auf den Weg zur Treppe, ihre Enkelin untergehakt. Die übrigen Familienmitglieder und Bediensteten folgten gehorsam. Beim Hinuntergehen bemerkte Gabriele die zertrümmerte Büste ihres Mannes. Mühsam hielt sie die Tränen zurück. Es war ein Geschenk von ihr an ihn zur Silberhochzeit gewesen. Sie traten vor das Schloss.

Der Offizier stellte sich vor sie.
– Ihr habt hier nichts mehr zu suchen. Hier gehört euch nichts mehr. Das Schloss und das ganze Land sind ab jetzt Eigentum der neuen kommunistischen Behörden. Freut euch, dass wir euch nicht gleich die Schädel eingeschlagen haben. Und jetzt weg! Ich will euch nicht mehr sehen! – schrie er.
– Wohin sollen wir gehen? – fragte die Gräfin.
– Am besten zur Hölle, ihr Schwaben! Verschwindet mir aus den Augen. Es ist mir egal, wo ihr verreckt. Raus hier, sonst schwöre ich, ich bringe euch um! – erhob er erneut die Stimme.
– Dürften wir unsere Sachen mitnehmen? – fragte die immer noch schluchzende Anna, die Tochter der Gräfin.
Der Offizier richtete die Pistole auf sie. Anna starrte ihn entsetzt an. Gabriele packte schnell ihre Hand und zog sie hastig fort, dann gingen sie. Hinter dem Tor schlugen sie den Weg zur Dorfkirche ein, die sie nach einigen Minuten erreichten.
Sie waren emotional erschöpft. Die Nachricht über das, was geschehen war, verbreitete sich blitzschnell. Die Leute hatten die Militärfahrzeuge und die Vertreibung der Gräfin aus dem Schloss gesehen. Als es etwas dunkler wurde, kamen immer mehr Menschen aus der Umgebung zur Kirche. Die Bewohner von Groß Kuntschitz, Klein Kuntschitz, Haslach, Rudnik, Pruchna und vielen anderen Dörfern brachten trockene Wurst, Käse, Brot und Decken. Jeder wollte der Gräfin und ihren Angehörigen helfen.
Kurz vor acht Uhr abends waren in der Kirche bereits etwa zweihundert Personen versammelt, und es gab mehr Essen und warme Kleidung, als nötig war. Die Gräfin sah all diese Menschen an. Sie wusste nicht, wie sie ihnen danken sollte. Sie wusste nicht, mit welcher Geste sie ihre Gefühle ausdrücken konnte. Mit zitternder, schwacher Stimme sagte sie:– Gott hat gegeben, Gott hat genommen, aber sein Name sei gepriesen für das, was ihr getan habt – dann brach sie in lautes Weinen aus.
Autor: Jonasz Milewski
P.S. Gräfin Gabriele von Thun und Hohenstein lebte kurze Zeit im Pavillon III des Schlesischen Krankenhauses in Teschen, wo ihr Dr. Edmund Dalski Zuflucht gewährte. Bald darauf wurde sie zusammen mit Elisabeth Miksch in einer kleinen Zweizimmerwohnung in der heutigen 3.-Mai-Straße 6 untergebracht. Bis zu ihrem Lebensende blieb sie mittellos. Alte Bekannte und dankbare Bewohner des Teschener Schlesiens brachten ihr Eier, Butter oder Milch. Obwohl ihre Kinder sie drängten, nach Österreich zu ziehen, entschied sie sich nie, ihre Heimat zu verlassen, weil sie, wie sie sagte:„Ich möchte bei den Meinen sein.“

Die Gräfin hatte vier Kinder. Henrietta (1894–1984) war eine österreichische Sportlerin. Erwein (1896–1946) wurde in sowjetischer Gefangenschaft in Ungarn erschossen. Friedrich (1898–1978) war Besitzer einer Fabrik in Karlsbad, die ihm nach dem Zweiten Weltkrieg genommen wurde. Die Jüngste, Anna (1902–1988), blieb zeitlebens unverheiratet und widmete sich karitativer Arbeit.
Die Enkelkinder Gabrieles – Erwein Junior, Isabele und Ferdinand Junior – lebten in Österreich. Die Gräfin erlebte auch die Geburt von zwei Urenkeln: Erwein III und Hemma (die dritte Urenkelin, Elisabeth, wurde erst nach Gabrieles Tod geboren).

Gräfin Gabriele von Thun und Hohenstein pflegte bis zu ihrem Lebensende freundschaftliche Beziehungen zur Familie Dalski, die in der Głęboka-Straße wohnte. Fast täglich besuchte sie sie um 16:00 Uhr zum Nachmittagskaffee. Gegen Ende ihres Lebens war sie bereits abgemagert und gebrechlich, strahlte jedoch immer noch Würde und Edelmut aus. Sie starb im Alter von 85 Jahren, am 17. Oktober 1957 in Teschen. Sie wurde in Groß Kuntschitz beigesetzt, neben ihrem Mann Felix und ihrer Schwester Fanny.
Das Schloss in Groß Kuntschitz gehört heute Marcin und Ewa Lipski, die rundherum den Weinberg Château Groß Kuntschitz angelegt haben, der Teil der Teschener Weinstraße ist, und die die Stiftung „Der Guten Dame aus Groß Kuntschitz“ betreiben.
Quellen:
„Die Gute Dame aus Groß Kuntschitz“ – Czesław Gamrot (Zwrot 9/2017)
„Gräfin Gabriela von Thun-Hohenstein und ihre Familie“ – Franz Hr. Czernin von Chudenitz, Übersetzung Stanisław Konopka (Teschener Kalender, 2003)
„Gabriela von Thun und Hohenstein – ‚die Gute Dame‘“ – Aleksandra Skrzypietz („Ihre Spuren in der Geschichte – Frauen in der Woiwodschaft Schlesien im Laufe der Jahrhunderte“, 2015)
„Zeitgenossen über Gräfin Gabriela von Thun“ – Mariusz Makowski (Teschener Kalender, 2007)
Comments