„Er erschoss sie (…), als sie sich nach mir sehnte“. Die Tragödie von Tuwims Mutter
- Jonasz Milewski
- 22. Juli
- 9 Min. Lesezeit
Karolina, eine nicht ganz vierzigjährige Krankenschwester, saß versteckt am Fenster und streckte ab und zu die Nasenspitze hinaus. Ihre Hände zitterten. Innen spürte sie ein schreckliches Zusammenziehen. Seit fünf Uhr morgens fuhren ununterbrochen Lastwagen durch Otwock. Obwohl es schon das dritte Kriegsjahr war, hatte sie noch nie zuvor so viele Transportfahrzeuge auf einmal gesehen.

Früher, noch vor sieben, klopfte ihre Nachbarin, eine Polin, an die Tür. Sie teilte der Krankenschwester mit, dass die Liquidierung des Ghettos begonnen hatte, dessen Grenze nur ein paar hundert Meter von ihren Häusern entfernt verlief. Sie erschrak. Sie wusste nicht, was mit den Menschen geschehen würde, die dort wohnten. „Hierher sollten sie nicht kommen, das ist schon nicht mehr das Ghetto“, wiederholte sie.
Kurz nach sieben öffnete Frau Adela, die im Schlafzimmer lag, nach dem Schlaf die Augen. Sie begann zu weinen und zu schreien. Karolina lief schnell zu ihr.
— Frau Tuwim, bitte leiser, ich flehe Sie an! — begann sie sie zu beruhigen, während sie ihr über die abgemagerten Schultern strich.
— Wo ist Julek?! Ruf ihn, Karolcia, schnell! — wimmerte sie unter Tränen.
— Frau Tuwim, Julek ist in Sicherheit, Sie hatten einen schlechten Traum. Trinken Sie bitte etwas Kräutertee, ich habe ihn schon vorher aufgebrüht — schob sie ihr schnell eine Porzellantasse mit Blumenmuster unter die Nase. Darin war ein Aufguss aus Melisse, gemischt mit einem Beruhigungsmittel.

— Diese verfluchten Endecja-Leute (polnische politische Bewegung mit nationalistischer Ideologie) wollen Julek erwischen! — rief sie wütend. — Weißt du, Karolcia, ich habe es nicht leicht. Er ist gezeichnet — sie änderte den Ton und begann zu flüstern. — Es ist meine Schuld, es ist eine Strafe für meine Vergehen. Wie schwer mir das fällt … — begann sie zu schluchzen und nahm immer wieder einen Schluck von der Mixtur. — Die Endecja, sie haben sich in den Kopf gesetzt, mir mein geliebtes Kind wegzunehmen. Er ist gezeichnet — wiederholte sie und spielte dabei auf den dunklen Fleck an der Wange ihres Sohnes an.
— Frau Tuwim, ich bitte Sie, leiser. Herr Julian ist in Sicherheit — sagte Karolina nervös, während sie ihr das Getränk an die Lippen hielt, in der Hoffnung, dass das Mittel sie schneller beruhigen würde. Die Frau kümmerte sich von Anfang an um die alte Dame, seit diese in die „Zofiówka“ in Otwock gekommen war. Es war ein Krankenhaus für Nerven- und Geisteskranke. Als die alte Dame 1935 nach dem Tod ihres Mannes versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, hatten ihre Kinder, Julian und Irena, entschieden, dass die Mutter nicht länger allein in Łódź wohnen könne, und brachten sie hierher. Der Ausbruch des Krieges führte dazu, dass Frau Tuwim zusammen mit der ihr zugeteilten Krankenschwester in einer der Villen außerhalb der Ghettogrenze untertauchte.
— Deck mich mit der Decke zu, Karolcia, es ist heute schrecklich kalt — bat sie. Die Pflegerin erfüllte ihre Bitte schnell, obwohl die Temperatur draußen schon über fünfundzwanzig Grad lag. Sie breitete die braune Decke über dem Bett aus und strich sie über den Beinen der alten Dame glatt.
— Bleiben Sie liegen, ich bereite Ihnen etwas zu essen — schlug sie vor, beugte sich und ging in die Küche. Sie hatte das Gefühl, dass, wenn sie nicht vorsichtig war, jemand sie durch das Fenster bemerken könnte.

Die 70-jährige Adela Tuwim nahm die „Rzepka“ in die Hände, die ihr Sohn vor vier Jahren geschrieben hatte. Ungeschickt setzte sie sich die Brille auf die Nase. Die in der Küche das Frühstück zubereitende Krankenschwester hörte durch die angelehnte Tür immer wieder das mit Lachen wiederholte: „Oj, jemand zum Anhängen wäre jetzt gut!“
Die alte Dame wurde schnell wieder fröhlich. Die Werke, die Julian geschrieben hatte, brachten ihr Trost. Als ihre Kinder noch klein waren, las sie ihnen jeden Abend polnische Literatur vor und summte alte Lieder. Sie liebte es zu lesen. Ihre Neigung zur Melancholie ließ sie die Poesie als eine Art Therapie betrachten. Mit der Zeit machten sich ihre Stimmungsschwankungen immer stärker bemerkbar. Das Verlangen nach Anerkennung wurde allmählich zum Wahn. Praktisch jede Nacht quälten sie Albträume.
Kurz nach elf verstummten die Geräusche der fahrenden Lastwagen. Karolina setzte sich auf den Boden neben das Bett der Frau Tuwim. Ihre Hände zitterten noch immer, obwohl sie eine leichte Ruhe verspürte. Die lauten Motoren klangen unheilvoll. Die Stille gab eine trügerische Sicherheit.
— Karolcia, lies mir ein Gedicht von Julek vor. Nimm eins aus dem Regal — bat die alte Dame. Die Krankenschwester erfüllte den Wunsch ihrer Schützling. Sie öffnete den Gedichtband und begann zu lesen:
"Wenn wieder frischer Leim die Mauern
Mit schwarzen Aufrufen wird bekleben,
Wenn „An die Bürger!“, „An die Soldaten!“
Alarm in dicken Lettern wird erheben
Und irgendein Lump, ein dahergelaufener Junge
Dem ewigen Lügenmärchen glaubt,
Dass man marschieren, mit Kanonen feuern,
Morden, plündern, vergiften, verbrennen muss;
Wenn sie in tausendfältigen Floskeln
Das Vaterland durch Deklination zerren
Und mit buntem Wappen dich betören,
Mit „historischen Gründen“ auf dich gären,
Von Zoll und Ruhm und Grenzverlauf,
Von Vätern, Großvätern und Fahnen,
Von Helden und von Opfern prahlen;
Wenn Bischof, Pastor, Rabbi treten
Um dein Gewehr zu segnen,
Weil ihnen Gott vom Himmel sagte,
Dass du fürs Vaterland dich schlagen solltest;
Wenn dann die Titelseiten brüllen,
In ekelhaftem, wildem Grollen …"
Karolina hielt inne, als plötzlich ein Schuss fiel. Man hörte ihn aus der Ferne, von jenseits des Waldes. Die vorherige Ruhe der Krankenschwester war verschwunden. Ihr Herz füllte sich mit Angst. Einen Moment später fiel ein weiterer Schuss. Diesmal wurde er von einem lauten Schrei begleitet, der deutlich in ihrem Schlafzimmer zu hören war, obwohl er aus gut zwei Kilometern Entfernung kam.
— Karolcia, was sind das für Schreie? Geh, Kind, schau nach, ob Julek in Sicherheit ist — sagte die alte Dame mit geschlossenen Augen. Die Pflegerin kroch Richtung Küche, deren Fenster zum Wald hinausgingen. Langsam erhob sie sich, um unauffällig zu prüfen, ob sie irgendetwas erkennen konnte.
Die Bäume im Wald standen ungerührt gegenüber den tragischen Geräuschen. Die Sonne bestrahlte sie gerecht alle. Obwohl Karolina diesen Anblick gut kannte, wirkte der Wald heute unheilvoll. Plötzlich wurden die vorherigen Schüsse von einer Salve aus einem Gewehr abgelöst. Schuss auf Schuss zerriss die Luft. Schreie, Quieken, Gebrüll mischten sich mit dem Klang der mit enormer Geschwindigkeit abgeschossenen Metallstücke.
Die Pflegerin sank auf den Holzboden. Sie zitterte. Kalter Schweiß überzog ihren Körper. Der Lärm hörte nicht auf. Im Schlafzimmer geriet die alte Dame in Hysterie. Sie begann zu schreien. Die Krankenschwester kroch schnell zurück zu ihrem Bett und bat sie eindringlich, sich zu beruhigen. Sie gehorchte nicht. Die Gewehre schossen weiter, Frau Tuwim schrie aus voller Kehle.
— Rette Julek! Rette ihn! — schrie sie.
— Bitte beruhigen Sie sich sofort — sagte die hilflose Krankenschwester mit erhobener Stimme.
— Sie tun ihm weh, geh zu ihm! — hörte sie nicht auf.
Karolina griff nach dem Kissen und drückte es der alten Dame fest auf den Kopf. Sie hielt es einige Sekunden lang, bis Frau Tuwim sich verschluckte. Es half.
— Verzeihen Sie, aber ich musste. Wir müssen still sein — weinte sie.
— Ich weiß, die Endecja sucht meinen Julek. Ich weiß, wir müssen still sein. Ich weiß, wir müssen aufpassen, dass sie ihn nicht finden. Er ist so wehrlos — begann sie mitzuspielen. — Er ist gezeichnet — fügte sie flüsternd hinzu.
Plötzlich wurde es still. Die Gewehre hörten auf zu schießen. Auch Schreie waren nicht mehr zu hören.
— Schließen Sie die Augen, ich lese das Gedicht zu Ende — schlug die aufgewühlte Krankenschwester Frau Tuwim vor. Sie nahm den Gedichtband in die Hand und schlug ihn an der Stelle auf, wo sie aufgehört hatten. Der Titel lautete „An den einfachen Menschen“. Die alte Dame legte ihre Hand auf ihre Schulter, und Karolina begann zu lesen:
Wenn dann sich schäumend, brüllend, tosend
Das Gekreisch der Zeitungsschlagzeilen hebt,
Und ein Rudel wilder Weiber — mit Rosen
Die „Soldätchen“ zu bewerfen beginnt;
— O, ungelehrter Freund,
Mein Bruder von hier oder dort!
Wisse, dass die Glocken zur Angst
Von Königen und fetten Herren geläutet werden;
Wisse, dass es Lug ist, bloßer Schwindel,
Wenn sie dir zurufen: „Gewehr zur Schulter!“
Dass ihnen irgendwo das Öl aus der Erde spritzt
Und ihnen Dollars beschert;
Dass es in den Banken nicht mehr stimmt,
Dass sie irgendwo volle Kassen wittern,
Oder dass fette Halunken sich schon
Auf ein neues Zoll auf Baumwolle freuen.
Schlag mit dem Gewehr aufs Pflaster der Straße!
Dein ist das Blut, und ihr das Öl!
Und von Hauptstadt zu Hauptstadt
Ruf, dein Blut verteidigend:
„Betrügt euch doch selbst, ihr feinen Herren!“"

Sie war fertig, und das fiel zusammen mit dem Geräusch der anlaufenden Motoren von mehreren Dutzend Lastwagen.
— Mein Julek, klug und feinfühlig. Gut, dass er nicht hier ist. Gut, dass er weggefahren ist — kommentierte Frau Tuwim und machte den Eindruck, als erinnere sie sich an die Flucht ihres Sohnes aus dem besetzten Polen. Nur kurz. — Karolcia, geh und sag Julek, er soll sich im Keller verstecken, draußen hört man ein Brummen. Ich fürchte, es ist die Endecja. Du weißt, sie haben es auf ihn abgesehen, weil er gezeichnet ist. Du hast sicher sein Mal auf der Wange gesehen. Bitte, beeil dich, um ihn zu warnen. Na los, schneller — drängte sie.
— Gut, ich gehe. Bleiben Sie liegen — antwortete sie resigniert.
Noch immer auf allen vieren kroch sie ins Wohnzimmer mit dem Balkon. Durch das große Fenster war die Reymont-Straße zu sehen. Niemand spazierte dort, keine Spur einer lebenden Seele. Plötzlich wurden die Motorengeräusche von jenseits des Waldes deutlicher hörbar. Karolina hüllte sich in eine Decke, obwohl die Temperatur dreißig Grad erreichte. Der erste Lastwagen erschien am Horizont. Dahinter der zweite. Nach einigen Dutzend Sekunden der dritte. Das Dröhnen der Motoren ließ das Herz der auf dem roten Teppichboden liegenden Krankenschwester schneller schlagen.
Als der vierte Lastwagen an der Villa vorbeifuhr, erschien die alte Dame im Wohnzimmer. Die Pflegerin bemerkte sie nicht. Frau Tuwim, sich auf ihren Stock stützend, ging auf die Balkontür zu.
— Karolcia, du hast mir nicht gesagt, ob Julek sich im Keller versteckt hat! — rief sie empört. Ihre Stimme jagte der Frau eine Gänsehaut über den Körper.
— Bitte sofort ducken! — wandte sie sich entschlossen, wenn auch flüsternd, an die Frau. Sofort kam sie unter der Decke hervor und näherte sich so vorsichtig wie möglich Frau Tuwim, um sie auf den Boden zu setzen.
Draußen hörten sie quietschende Bremsen. Das war das schlimmste Geräusch, das jemals an Karolinas Ohren gedrungen war. Sie schluckte. Ein Türknallen. Die Pflegerin legte ihre Hand auf den Mund von Frau Tuwim, um ihr das Sprechen zu verwehren. Ein weiteres Türknallen. Gelächter unter dem Balkon. Die alte Dame begann zu weinen. Sie versuchte etwas zu sagen, aber sie hatte keine Kraft mehr, zu kämpfen.
— Aufmachen! — schrie einer der Soldaten und hämmerte gegen die Tür. — Aufmachen! — brüllte er erneut. Karolina reagierte nicht. Sie hielt Frau Tuwim weiterhin fest an sich gedrückt.
Ein Pistolenschuss auf das Schloss beendete die letzte Verteidigung, über die die Frauen verfügten. Der Soldat trat zusammen mit mehreren anderen ein. Über die Holztreppe gingen sie nach oben. Sie suchten nicht lange. Die Frauen saßen auf dem Boden des Wohnzimmers und hielten sich an den Händen. Frau Tuwim schaute den Soldaten an.
— Julek, flieh! — schrie sie, und die Kugel aus der Pistole bohrte sich in ihren Kopf. Sie sackte zusammen. Ein weiterer Schuss ließ Karolina dasselbe Schicksal teilen.
Der Soldat lud seine Waffe nach. Er befahl zwei anderen, die Körper der Frauen vom Balkon zu werfen. Sie fielen ins Gras. Frau Tuwim hatte noch immer die Augen offen, aber ihre Angst um Julek war vorbei. Sie endete am 19. August 1942.
Autor: Jonasz Milewski
P.S. Julian Tuwim schrieb ein Gedicht nach dem Tod seiner Mutter. Im Jahr 1946, als er nach Polen zurückkehrte, wurde der Körper von Adela Tuwim, der unter dem Balkon der Otwocker Villa in der Reymont-Straße verscharrt war, exhumiert und auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Łódź neben ihrem Ehemann beigesetzt.
Julian Tuwim, Die Mutter
Auf dem Lodzer Friedhof,
Dem jüdischen Gelände,
Liegt das polnische Grab
Meiner jüdischen Mutter am Ende.
Das Grab meiner Mutter, Polin,
Meiner Mutter, Jüdin, so nah —
Von der Weichsel brachte ich sie
An die Ufer der Fabrikstadt Łódź da.
Ein Fels drückt den Hügel,
Und auf dem fahlen Stein
Ein paar Lorbeerblätter,
Die von der Birke gefallen sein.
Und wenn ein sonniger Wind
Goldig mit ihnen spielt,
Formen die Blätter „Polonia“,
„Komandoria“ – mild.
Erschoss sie ein Faschist,
Als sie an mich gedacht,
Erschoss sie ein Faschist,
Als sie nach mir geschmacht’.
Er lud — erschoss die Sehnsucht,
Lud wieder, um weiterzutun —
Doch dann… doch dann war nichts
Mehr da, was man töten nun.
Er zerschoss die Mutterwelt:
Zwei zärtliche Silben voll,
Warfen die Leiche vom Fenster
Auf Otwocks heiligen Boden, so toll.
Merk dir, Töchterchen!
Erinn’re dich, später Enkel mein!
Es erfüllte sich das Wort:
„Das Ideal fiel auf den Stein.“
Ich hob sie vom Feld der „Ehre“,
Gab sie der Muttererde zurück…
Doch der Leichnam meines Namens
Liegt dort noch heut’ — ein Stück.

Quelle:
Przegląd Otwocki
Rzeczpospolita
Commentaires