Die letzten Juden in Istebna. Weitere Schicksale der Familie Springut.
- Jonasz Milewski
- 22. Juli
- 9 Min. Lesezeit
Die Tage, Monate und die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren eine unerträgliche Mischung von Emotionen, die die Überlebenden innerlich zermürbte.
Bielitz, 9. März 1947
Im geräumigen Zimmer saßen sechs Personen am Tisch. Kurz zuvor hatten sie das Sonntagsmittagessen beendet. Man spürte das Gewicht des nahenden Themas, das keiner von ihnen die Kraft hatte anzusprechen. Immer, wenn sie sich im Familienkreis trafen, wurden die Gespräche von Tränen begleitet. So war es auch diesmal wieder. Der 26-jährigen Renata zitterten die Hände, was ihre jüngere Schwester Elżbieta bemerkte. Sanft berührte sie ihr Knie. Die anderen starrten mit gesenkten Köpfen auf die bereits leeren Teller.

Jakob blickte zu seinem Bruder Herman, der schon seit einiger Zeit bei ihm wohnte. Langsam begann er, die Taschen seines Sakkos zu durchsuchen. Nach einem Moment zog er eine Metalldose hervor, aus der er zwei Zigaretten nahm. Eine davon schob er Herman zu.
– Rauchen wir eine? – schlug er vor.
– Gehen wir vor das Haus. Du weißt doch, dass deine Cecylia den Rauch in der Wohnung nicht mag – kommentierte Herman.
– Darf ich mich euch anschließen? – fragte Jerzy Sussmann (Zisman), Renatas Ehemann.
– Geh nur, geh, wir räumen mit Tante und Elżbieta auf – fügte Renata schnell hinzu, ohne auf die Zustimmung ihrer Onkel zu warten.
Nach dem Hinausgehen stellten sich Herman, Jakob und Jerzy in der Nähe der Mauer auf, die den Platz an der Żwirki-und-Wigury-Straße von den Straßenbahngleisen trennte. An Sonntagen fuhr der öffentliche Verkehr seltener als unter der Woche, doch just in dem Moment, als sie ihre Zigaretten anzündeten, raste eine rote Straßenbahn in Richtung Bahnhof an ihnen vorbei.
– Heute muss eine Entscheidung getroffen werden… – begann Herman nach einem Moment des Schweigens.
– In letzter Zeit waren es zu viele – seufzte sein Bruder Jakob.
– Im Mai sind es zwei Jahre seit Kriegsende. Zwei Jahre! – sagte Herman etwas lauter und zog den Rauch ein.
– Und immer noch gibt es Heimkehrer der Vermissten! – rief Jakob zurück.
– Wie viele sind diese Heimkehrer? Wovon redest du? Dass ein oder zwei Menschen im Monat gefunden werden, das hältst du nach so langer Zeit noch für einen Grund zur Hoffnung? Jakob, wach auf, sie leben nicht mehr!
– Doch! Das genügt mir, um weiter zu hoffen! – wandte er sich von seinem Bruder ab und warf den Zigarettenstummel auf die Straße.
Einen Augenblick lang schwiegen sie wieder. An diesem Nachmittag war es ruhig in Bielitz. Es war nicht besonders warm, deshalb hatten die Bewohner auf Spaziergänge verzichtet. In der Nähe des Żwirki-und-Wigury-Platzes, an dem Jakob und Cecylia Springut und seit einiger Zeit auch Herman wohnten, liefen nur ein paar Menschen umher, meist Jugendliche.
– Hör zu! Gib uns noch einen Monat. Das ist nicht lang – schlug Jakob vor.
– Wir geben uns von Monat zu Monat immer wieder einen weiteren Monat! Glaubst du, ich hätte keine Gefühle, dass ich mir nicht genauso sehr wünschen würde, dass sie den Krieg wirklich überlebt hätten? Denkst du, mein erster Gedanke nach der Rückkehr aus dem Lager war nicht, unsere ganze große Familie wiederzusehen? Doch, das war mein größter Traum! Ich wollte unseren Bruder Artur treffen, unsere Schwägerin Berta, Onkel Sigmund aus Istebna und alle Cousins! Aber es sind 22 Monate seit dem Ende dieses verdammten Krieges vergangen! 669 verdammte Tage, in denen ich auf irgendeinen Funken Hoffnung gewartet habe, dass sie zurückkommen! Jakob! Es ist Zeit, sich damit abzufinden! – schrie Herman und brach dann in Tränen aus.
– Es tut mir leid, wirklich leid – sagte er und nahm seinen Bruder in die Arme.
– Schon gut – beruhigte sich Herman schnell. Er wollte nicht noch einmal diese unkontrollierte Verzweiflung durchleben, die ihn schon so lange begleitete.
– Gehen wir zurück – schlug der die ganze Zeit schweigende Jerzy vor. Er kannte die Vermissten aus der Familie Springut. Alle in der jüdischen Gemeinschaft, die vor dem Krieg die Gegend um Bielitz, Teschen und Saybusch bewohnten, standen in engerem oder loseren Kontakt miteinander. Meistens machten sie Geschäfte miteinander.
Nach der Rückkehr in die Wohnung fanden die Männer die Frauen vor, die gerade das Geschirr abwuschen und abtrockneten. Auf allen Wangen waren Spuren von Tränen zu sehen. Es gab keine normalen Tage mehr. Immer wieder kehrten die Erinnerungen an die Lager zurück und die Sorge um die Vermissten. Sie führten keine normalen Gespräche über den Alltag. Selbst gewöhnliche Küchengegenstände lenkten die Gedanken auf die Bahn der tragischen Erinnerungen. Ein Metalltopf, ein Besen, eine Schachtel Streichhölzer – sie erinnerten an die schrecklichen Erlebnisse. Es gab keine normalen häuslichen Tätigkeiten mehr.
– Setzen wir uns – sagte Jakob mit brüchiger Stimme. – Wir müssen eine Entscheidung treffen – fügte er hinzu, nachdem er tief Luft geholt hatte, um seinem Bruder Raum zu geben.

In der Wohnung herrschte Grabesstille. Alle setzten sich lautlos an den runden Tisch. In der Mitte nahm Herman Platz, der älteste der noch lebenden Springuts. Neben ihm Jakob, dann seine Frau Cecylia, die Töchter des vermissten Artur – Renata und Elżbieta, und ihnen gegenüber Renatas Ehemann Jerzy Sussmann (Zisman).
– Jerzy. Sag, was du weißt… – Herman blickte Renatas Mann an. Dem war, als wäre er gelähmt. Sein Blick wanderte sofort zu seiner Frau, die keine Ahnung hatte, dass er über irgendein Wissen verfügte.
– Ich weiß, dass ich es früher hätte gestehen sollen… – begann er, mit trockener Kehle.
– Was weißt du? Jerzy! – erhob Renata die Stimme, als sie den Kummer in den Augen ihres Mannes sah. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
– Verheimliche nichts, bitte – fügte Herman hinzu.
– Im Lager… – seine Stimme brach. – Im Lager in Płaszów wurde viel gesprochen. Über die Transporte, die zu uns kamen, aber auch über die, die nach Auschwitz gingen… – jedes Wort fiel ihm schwer.
– Was wurde gesagt? Um Himmels willen, was? – drängte Renata, während ihre Schwester Elżbieta ihre Hand ergriff.

– Ich erinnere mich, dass es an einem Oktobertag 1944 war… Ich traf einen Schriftsteller, ich erinnere mich nicht an seinen Namen. Er war gut informiert darüber, was geschah. Ich fragte ihn nach dem Transport, der damals nach Płaszów gekommen war – sagte Jerzy, während er auf den Tisch starrte. – Er sagte, es seien slowakische Juden gewesen. Ich weiß nicht, woher, aber er wusste, dass meine Renatka aus der Familie Springut stammte. Er fügte hinzu, dass die Springuts in diesem Transport gewesen seien…
– Sprich weiter! – drängte ihn Jakob nach einem kurzen Moment des Schweigens.
– Angeblich wurden Sigmund, Karolina, Josefine und Sidoni (Salomea) schon 1942 in Auschwitz vergast. Aber in Žilina blieben noch Róża, Honorata und ihre Tochter Judita zurück. Doch nach dem slowakischen Aufstand 1944 verstärkten die Nazis die Verfolgung. Jemand verriet den Deutschen die übrigen untergetauchten Springuts. Alle wurden nach Płaszów gebracht und kurz darauf nach Auschwitz, wo sie keinen einzigen Tag überlebten. Róża, Honorata und die 17-jährige Judita wurden sofort in die Gaskammer geschickt… – gestand er und brach daraufhin in Tränen aus. Er verstand den Schmerz eines so gewaltigen Verlustes und des Bestialischen nur zu gut, denn er wusste, dass seine Eltern dasselbe Schicksal erlitten hatten.

– Honoratas Mann, Vojtech, starb schon 1942. Das weiß ich von einem Mann, der gesehen hat, wie er in die Gaskammer in Auschwitz geführt wurde – fügte Herman hinzu.
Renata, Elżbieta und Cecylia brachen in hemmungsloses Weinen aus. Vor ihren Augen erschienen all die Momente aus ihren vier Jahren im Lager, in denen auch sie hätten sterben können. Zugleich überkam sie eine Wut über die Grausamkeit, die Menschen Menschen angetan hatten. Renata erinnerte sich an einen Tag, an dem einer der SS-Männer sie zwang, sich nackt auszuziehen, und sie in die Gaskammer stieß. Damals verstand in Auschwitz schon jeder, wozu diese Gebäude dienten. Sie stand nackt, zusammengedrängt mit mehreren Hundert anderen. Es vergingen einige Stunden. Sie waren verwirrt und verängstigt. Wie sich später herausstellte, war das Zyklon B ausgegangen. Es gab keine Möglichkeit, den Mangel schnell zu beheben, und alle wurden ins Lager zurückgeführt. Von der ganzen Familie Springut war sie eine der wenigen, die dieses Glück gehabt hatte.
– Also hat niemand von ihnen überlebt? – schluchzte Elżbieta.
– Unsere ganze Familie aus Istebna ist umgekommen – antwortete Herman.
– Und Maximilian? – fragte Renata, nach Luft ringend.
– Maximilian wurde schon im August 1939 zur Polnischen Armee eingezogen und zog in den Krieg. Ich habe gehört, dass er in Russland in Gefangenschaft geriet und seine Spur sich verlor. Seitdem sind acht Jahre vergangen, ohne ein Lebenszeichen – fügte er hinzu und bedeckte sein Gesicht mit den Händen, um sein Weinen zu verbergen.
In der Familie Springut kehrte eine von Schluchzen unterbrochene Stille ein. Sie verstanden, dass die letzten stillen Hoffnungen auf ein Wiedersehen mit den Angehörigen verloren waren. Alle aus der Familie Springut aus Istebna waren eines bestialischen Todes gestorben.
– Das ist der Tag der Entscheidung – sagte Herman nach langem Schweigen. – In der nächsten Woche werde ich mich an das Amtsgericht in Teschen wenden und sie für tot erklären lassen. Ich bitte um eure Zustimmung – sagte er und ging dann in das andere Zimmer.
Epilog:

Sigmunt Springut wurde am 6. Juni 1870 in Skrzydlna bei Limanowa geboren. Im Jahr 1895 heiratete er Esther Gruber-Springut, geboren 1870 in Rajcza. Um 1896 ließen sie sich in Istebna nieder. Sie bekamen sechs Kinder (alle Opfer des Holocaust):
· Rosa (Róża) Springut-Goldstein (geb. ca. 1896 in Istebna; gest. 1944 in Auschwitz).
· Honora (Honorata) Springut-Kohn (geb. 05.01.1898 in Istebna; gest. 1944 in Auschwitz). Am 19.12.1926 heiratete sie in Žilina Vojtech Kohn. Sie wohnten in der Jána Kalinčiaka 1265/6 in Žilina. Sie hatten zwei Töchter:
– Judita Kohn (geb. 01.11.1927 in Žilina; gest. 1944 in Auschwitz. Sie war 17 Jahre alt)
– Vera Kohn (geb. 10.05.1934 in Žilina; gest. vor dem Krieg als Kind)
· Karoline Springut (geb. 23.12.1900 in Istebna; gest. 04.07.1942 in Auschwitz)
· Josefine Springut (geb. 23.12.1900 in Istebna; gest. 12.07.1942 in Auschwitz)
· Sidoni (Salomea) Springut (geb. 26.10.1902 in Istebna; gest. 29.05.1942 in Auschwitz)
· Maximilian Springut (geb. ca. 1907 in Istebna; gest. während des Krieges in Russland)
Sigmunt Springut war Onkel der Neffen, die in Żywiec und Bielitz wohnten:
· Herman Springut (geb. 1894). Er wurde in Jeleśnia geboren und lebte in Bielitz. Vor dem Krieg war er im Industrie- und Handelssektor tätig. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs floh er nach Ostpolen und später nach Russland. Nach dem Krieg kehrte er nach Bielitz zurück, wo er mit seinem Bruder Jakob und seiner Schwägerin Cecylia am Żwirki-und-Wigury-Platz 4 wohnte. 1947 zog er in die 1-Maja-Straße 14 in Bielitz. Er trat als Vertreter der Familie Springut vor dem Amtsgericht in Teschen auf, um die Springuts aus Istebna für tot erklären zu lassen. Wahrscheinlich emigrierte er 1948 nach Israel.
· Jakob Springut (geb. 25.01.1898 in Jeleśnia, gest. April 1980 in Cleveland, Ohio). Er wurde in Jeleśnia geboren und lebte in Bielitz am Żwirki-und-Wigury-Platz 4. Seine Frau war Cecylia Springut. Er blieb bis Ende der 1940er Jahre in Bielitz und emigrierte später in die USA.

· Arthur Springut (geb. 08.08.1893; gest. 28.10.1942, Bełżec). Er wurde in Jeleśnia geboren und lebte in Żywiec. Er arbeitete in der Holzindustrie. Er baute ein Haus in Żywiec-Zabłocie in der Kolejowa-Straße 5 (heute Dworcowa-Straße). 1939 floh er mit seiner Familie nach Krakau, wo sie um 1941 ins Ghetto kamen. Ende Oktober versteckte er sich zusammen mit seiner Frau Bertha und den Töchtern Renata und Elżbieta im Keller in der Janowa-Wola-Straße 8 in Krakau. Arthur und Bertha wurden in einen Transport nach Bełżec verladen, wo sie am 28.10.1942 vergast wurden.
Renata Springut-Zisman (geb. 18.04.1921 in Żywiec-Zabłocie; gest. 30.07.1999 in Krakau). Tochter von Arthur und Bertha Springut. Sie war eine der wenigen Überlebenden des Holocaust. Sie überstand fünf Konzentrationslager – Płaszów, Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück und Neustadt-Glewe. Nach dem Krieg lebte sie in Krakau. Sie war Pianistin. Sie heiratete Jerzy Sussman (Zisman). Nach seinem Tod heiratete sie Daniel Bertram. Sie lebten in Krakau.
Chronologie der Nachkriegsereignisse:
Am 14.03.1947 geht beim Amtsgericht in Teschen der Antrag von Herman Springut, wohnhaft am Żwirki-und-Wigury-Platz 4 in Bielitz, auf Todeserklärung der Springuts ein.

Am 03.11.1947 wird in Istebna ein öffentliches Aushang veröffentlicht, in dem die vermisste Familie Springut aufgefordert wird, sich beim Amt zu melden, falls sie noch lebt. Ebenso werden alle, die irgendwelche Informationen über die Vermissten geben können, dazu aufgerufen, sich zu melden.
Am 12.01.1948 geht beim Amtsgericht in Żywiec ein Schreiben des Amtsgerichts in Teschen ein mit der Bitte, Jerzy Sussmann (Zisman), wohnhaft in Zabłocie bei Żywiec, Kolejowa-Straße 5, als Zeugen zu vernehmen.
Am 16.02.1948 fand vor dem Amtsgericht in Żywiec die Zeugenvernehmung von Jerzy Sussmann (Zisman) (44 Jahre alt) statt. Der Zeuge sagt aus, dass ihm 1944 während seines Aufenthalts im Lager Płaszów ein bekannter Schriftsteller erzählte, dass sich in einem der Transporte die Familie Springut befand, die damals in Žilina wohnte. Sie seien nach kurzer Zeit in die Gaskammer in Auschwitz-Birkenau geschickt worden.
Am 27.02.1948 richtet der Gemeindevorstand Istebna ein Schreiben an das Amtsgericht in Teschen mit dem Hinweis, dass der Aushang, in dem um Informationen über das Schicksal der Springuts gebeten wurde, abgenommen wurde. Die Behörde fügte hinzu, dass festgestellt worden sei, dass Maksymilian Springut im August 1939 zur Polnischen Armee eingezogen wurde, sich später in Russland aufhielt, aber bisher nicht zurückgekehrt ist. Honorata geb. Springut, verh. Kohn, habe ständig in Žilina gewohnt. Die übrigen Springuts hätten bis zum Ausbruch des Krieges in Istebna gewohnt.

Am 10.03.1948 fand die Zeugenvernehmung von Herman Springut (54 Jahre alt) statt. Er gibt an, dass Zygmunt Springut der Bruder seines Vaters und somit sein Onkel ist. Er gibt an, dass Zygmunt Springut zusammen mit seinen Kindern in Istebna wohnte, mit Ausnahme von Honorata Springut, die nach ihrer Heirat nach Žilina zog. Herman Springut selbst wohnte vor dem Krieg in Bielitz. Nach dem Ausbruch des Krieges floh er vor den Besatzern in die östlichen Gebiete Polens, von wo er nach Russland gelangte. Es gelang ihm nicht, Kontakt zu seinem Onkel aufzunehmen.
Am 29.05.1948 werden die Springuts für tot erklärt. Als fiktives Todesdatum wird der 31.12.1946 festgelegt.
Quelle:
sowie
Materialien des IPN sowie des Museums Auschwitz-Birkenau, die Jonasz Milewski für die Veröffentlichung dieses Materials zur Verfügung gestellt wurden.
Autor: Jonasz Milewski
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