Mama, hol mich aus diesem Krieg
- Jonasz Milewski

- 15. Juli
- 7 Min. Lesezeit
Die Hitler-Uniform sollte Prestige und ein Gefühl der Überlegenheit verleihen. Mit der Zeit wurde sie zum Grund für Scham. Die Geschichte von Alois Mojeścik aus Ustron im Teschener Schlesien, der an der Ostfront unter der Nazi-Flagge kämpfte.

Ganz in der Nähe explodierte eine Granate. Die dritte innerhalb weniger Minuten. Der Lärm zerriss die Ohren. Überall ringsum waren Schüsse zu hören. Gebückt begann er, in Richtung der Schützengräben zu kriechen. Er hatte nur zehn Meter zurückzulegen. Doch er verspürte eine unvorstellbare Angst bei dem Gedanken, wie lang diese Strecke war. Er wusste nicht, wie nah die sowjetischen Soldaten schon waren. In der Luft lag der Geruch von Abgasen und Metall. Überall lagen Teile zerstörter Artillerie verstreut. Seit vielen Tagen tobten dort erbitterte Kämpfe. Am 23. August 1943 eroberten die Sowjets Charkow. Das war ein Schlag für die Wehrmacht. Alois verteidigte diese Stadt und entkam wie durch ein Wunder mit dem Leben. Jetzt hatte sich seine Kompanie bis an die Vororte von Poltawa zurückgezogen. Müde, schmutzig, unsicher über die Zukunft. Das Kommando versicherte ihnen, dass sie in der Lage seien, sich zu verteidigen. Schließlich wurde die Operation von keinem Geringeren als Generalfeldmarschall Erich von Manstein geleitet. Ihre Aufgabe war es, die Sowjets vom Ufer des Dnepr fernzuhalten.
Die 282. Infanterie-Division, in der Mojeścik diente, war erst vor zwei Monaten an die Ostfront verlegt worden. – „Wir werden die Roten vertreiben!“ – freuten sich Alois’ Kameraden, als sie erfuhren, dass sie Frankreich, wo sie stationiert gewesen waren, verlassen würden. Jetzt, während er sich vorwärts kroch, passierte er den Körper eines von ihnen. Er schaute in das Gesicht seines Freundes. Die Augen waren noch immer offen.
Eine weitere Explosion unterbrach den Abschied. Alois beschleunigte. Es blieben ihm nur noch wenige Meter. Immer deutlicher waren russische Rufe zu hören. Die Sowjets waren wirklich nah. Schuss auf Schuss, als wäre er allein das Ziel. Noch eine Granate. Weitere Explosionen.
Der letzte Meter vor dem Schützengraben. Nichts wünschte er sich mehr, als in das in die Erde gegrabene Loch zu springen. Ein halber Meter. Schüsse, Rufe, Abgase, Explosionen. Plötzlich hörte er: „Schneller, ich decke dich!“ — dann ermöglichte eine Maschinengewehrsalve in Richtung der Sowjets Alois, sich sicher in den Graben zu rollen.
Er setzte sich auf den von der Sonne ausgetrockneten Lehm. Er lehnte sich zurück. Seine Hände zitterten. Doch er war froh, am Leben zu sein. Er blickte nach oben. Es war Mittag, und die Augusthitze trieb ihm den Schweiß ins schlammverschmierte Gesicht. Der Schmutz war jedoch sein kleinstes Problem. Er nahm einen Schluck Wasser. Es schmeckte scheußlich. Er trank. Es gab keine Alternative, und er verspürte einen gewaltigen Durst. Die Kämpfe dauerten seit dem Morgen an. Seit die Sowjets vor zwei Tagen Charkow eingenommen hatten, drängten sie im Triumph nach Westen.

„Mojeścik! Evakuierung!“ — rief ihm der Kommandant zu. Er hatte keine Kraft mehr dafür. Er wollte einfach nur nach Hause gehen. Er wollte sich ausruhen. Er verachtete jeden Augenblick. In ihm wuchs immer größerer Zorn. „Wozu das alles?“, dachte er. Das hatte man ihm nicht versprochen, als er vor der Musterungskommission in der Stadt Teschen (poln. Cieszyn) erschienen war. Sie sollten sich als Herrenrasse mit Ruhm bekleiden. Das Ego der Jungen in seinem Alter wurde gestreichelt, indem man ihnen die Vision eines tausendjährigen Reiches ausmalte, dessen Fundament sie sein sollten. Man redete ihnen ein, dass die Menschen sich nach Herkunft in bessere und schlechtere teilten. Er gehörte zu den Besseren. Das gefiel ihm anfangs. Jetzt nicht mehr. Er war nicht der Einzige, der dem Zauber des neuen Staates erlegen war, der alle ehemaligen germanischen Länder vereinen sollte. Seine älteren Brüder wurden Soldaten, sogar die, die schon Familien gegründet hatten. Auch die Nachbarsjungen zogen in den Krieg. Einige rechtfertigten sich damit, dass es eine Zwangseinberufung sei. Andere wollten zur Propaganda beitragen, der sie erlegen waren. Die einen wie die anderen kämpften für das Dritte Reich. Karten, die vom Erfolg berichteten, kamen aus allen möglichen Ecken Europas ins heimatliche Lippowietz (poln. Lipowiec).

- Mojeścik! Schneller! — die entschlossene Stimme des Kommandanten riss Alois aus seinen Gedanken. Er setzte sich in Bewegung. Er griff nach dem Gewehr. Er folgte den übrigen der neunten Kompanie. Die Schüsse verstummten nicht, auch wenn sie schon weniger intensiv waren. Deutsche Panzer bremsten das Vorrücken der Sowjets wirksam. Um jeden Meter kämpften beide Seiten mit größter Verbissenheit. Das Geknatter war unerträglich.
- Halt! — befahl der Kommandant. Sie blieben stehen. Alois drehte sich um und blickte in das verängstigte Gesicht des Soldaten, der direkt hinter ihm stand. Er war erst kurz an der Front. Vielleicht 18 Jahre alt. Seine Augenlider zitterten.
- Woher kommst du“ — fragte ihn Mojeścik.
- Aus Wien. — antwortete der Junge.
- Es wird schon gut. — Alois klopfte ihm auf die Schulter. — Du kommst zurück nach Wien. — fügte er hinzu. Er glaubte aufrichtig daran.
Der Junge schaute ihn voller Verachtung an. Man sah, dass ihn Wut überkam.
- Warum sind wir überhaupt hierhergekommen? Wir sind doch nicht zu Hause! — schleuderte der Achtzehnjährige ihm entgegen und hielt die Tränen zurück. Alois sah ihm in die Augen. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Einen Achtzehnjährigen konnte man leicht betören und in den Krieg schicken. Aber ihn? Einen Siebenundzwanzigjährigen? Er wandte den Blick ab.
Der Kommandant gab das Zeichen, weiterzugehen.– Soldaten! Wenn ihr überlebt, erwarten euch Tapferkeitsmedaillen! Das ist eine Ehre! – verkündete er laut, als die Kriegslärm für ein paar Sekunden verstummte. Niemand kommentierte es.– Und die 42 Mark Prämie entgehen euch auch nicht – fügte er hinzu.
Alois lachte in sich hinein. „Guter Preis. Hundert Mark im Monat, vierzig Prämie und ein Stück Blech für das tägliche Risiko, das Leben zu lassen, im Namen einer Idee, die sich ein paar Kerle ausgedacht haben.“ Die Wut stieg in ihm noch mehr auf. Er fühlte sich betrogen. So hatte er sich den Krieg nicht vorgestellt. Die Nachbarsjungen hatten erzählt, der Krieg sei schön. Alle Armeen zitterten vor der Wehrmacht, und die Mädchen aus den besetzten Dörfern brächten den Deutschen Blumen und Wodkaflaschen, nur um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. „Warum konnte ich nicht sehen, wie dumm das ist“, dachte er.
Sie erreichten das Ende des Schützengrabens. Von dort waren es nur noch 300–400 Meter bis zum Lastwagen. Im Laufschritt hätten sie ihn in zwei Minuten erreicht. Der Rauch des nahe brennenden Panzers erschwerte es, das Risiko einzuschätzen. Sie wussten nicht, ob sich dahinter nicht Sowjets verbargen. Der Kommandant befahl, auf einen günstigen Moment zu warten.
– Wenn wir überleben, werden wir uns satt essen – begann der Kommandant erneut, mit einer strahlenden Zukunft zu locken.
Über die militärischen Zuteilungen konnte man sich nicht beklagen. Es wurde darauf geachtet, dass kalorienreiche und abwechslungsreiche Mahlzeiten in die Einheiten kamen. Jeder Soldat erhielt täglich Brot, Aufstrich, Wurst, Fisch- und Käsekonserve sowie Marmelade als kalte Ration. Dazu wurde jeden Tag eine warme Mahlzeit serviert, die aus einem Kilogramm gekochter Kartoffeln, Gemüse, einer Portion Nudeln oder Grütze sowie einem ordentlichen Stück Fleisch bestand. Außerdem konnte man 7 Zigaretten, Kaffee, Tee und hin und wieder Schokolade bekommen. Die deutschen Soldaten hungerten nicht.

Die intensiven Sonnenstrahlen brannten auf die müden Gesichter der neunten Kompanie. Alois roch in der Luft den Duft von Blut, vermischt mit dem Aroma frisch gemähten Grases. Letzteres erinnerte ihn an sein Elternhaus. Sie wohnten im Dorf Lippowetz bei Ustron in Schlesien. Sie waren wohlhabende Bauern. Sie besaßen ausgedehnte Felder, die er schon seit seiner Kindheit mit bewirtschaftete. Er war der Jüngste von neun Geschwistern. Seine Mutter, Anna, starb, als er noch nicht einmal sechs Jahre alt war. Die einzige Erinnerung, die ihm geblieben war, war ihr Anblick, wie sie im Bett lag, rot, schweißgebadet und vor Schmerz schreiend. Im Jahr 1922 verlor sie den Kampf gegen Typhus. Nach ihrem Tod änderte sich alles. Der Vater heiratete schon nach nur zwei Monaten wieder. Er bekam noch drei weitere Kinder. Für die anderen nahm er sich keine Zeit mehr. Das nahmen sie ihm übel. Besonders schmerzte es Alois, der sich im Laufe des Erwachsenwerdens emotional vom Vater entfernte.

Er seufzte. Er verspürte Sehnsucht nach Hause. Nach dem grünen Lippowetz, nach Ustron und der dort fließenden Weichsel. Statt wie jedes Jahr bei der Heuernte zu helfen, saß er jetzt in einem ausgehobenen Loch irgendwo weit weg, in der Ukraine, und duckte den Kopf vor mit unvorstellbarer Geschwindigkeit fliegenden Metallstücken, die man Geschosse nannte. Er wollte seine Brüder und Schwestern wiedersehen.
Er spürte, dass er nach seiner Rückkehr zum Grab des Vaters gehen musste. Er wollte sagen, dass er ihm vergibt. Ihm wurde bewusst, dass er in diesem Krieg Dinge gesehen und getan hatte, die schlimmer waren als das Desinteresse, das er seinem Vater vorgeworfen hatte.
– Jetzt! – rief er. Die ganze neunte Kompanie stürzte in Richtung des Lastwagens. Sie rannten. Der Motor war schon angelassen. Ein danebenstehender Panzer deckte sie. Plötzlich eröffneten die Sowjets das Feuer. Die Gewehre gaben grausame Laute von sich. Eine der Kugeln bohrte sich in den Rücken des Kommandanten, der mit einem Stöhnen zu Boden fiel. Eine andere beendete das Leben des Achtzehnjährigen aus Wien. Alois schrie laut vor Verzweiflung. Doch er konnte nicht stehen bleiben.
Hundert Meter. Siebzig. Vierzig. Die Sowjets hörten nicht auf zu schießen. Dabei riefen sie: – Wir jagen Nazis! Zwanzig. Der Lastwagen setzte sich langsam in Bewegung. Zehn. Eine weitere Salve. Fünf. Schuss auf Schuss. Zwei.

Er sprang auf die Ladefläche. Die anderen ebenfalls. Er spürte eine wohltuende Wärme, die seinen ganzen Körper umhüllte. Dann Feuchtigkeit. Der Lastwagen beschleunigte. Wieder Wärme. Es begann zu dämmern. „Sind wir etwa nach Lipowiec zurückgekehrt? Ist der Krieg etwa zu Ende?“ — dachte er. Noch nie zuvor hatte er solche Wonne gespürt. Noch nie zuvor solche Erleichterung. Er legte sich auf den Rücken. Wie in Zeitlupe sah er die Kameraden. Sie hatten verängstigte Gesichter. Er wusste nicht warum. Er berührte die Uniform. Rot, feucht. Zwei Soldaten sagten etwas zu ihm, zwei andere hielten seine Hand. Er konnte die Augen nicht länger offenhalten. Für ihn war der Krieg am 25. August 1943 bei Poltawa zu Ende. Vor seinen Augen erschien das Elternhaus, noch mit der Mutter. Sie trat zu ihm, umarmte ihn, und Alois lächelte und schloss die Augen.
Autor: Jonasz Milewski

Quelle:
Lexikon der Wehrmacht
Bundesarhiv
Narodowe Archiwum Cyfrowe




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