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Neues Leben jenseits des ‚großen Wassers‘

Der erste Tag bringt immer viele Emotionen mit sich. Besonders, wenn man ein neues Leben in einem fremden Land beginnt. Michael Kukuczka und sein erster Tag in den USA nach seiner Ausreise aus Schlesien im Jahr 1910.

Michael Kukuczka
Michael Kukuczka

Vor ihm in der Schlange stand eine Frau, die ungefähr sechzig Jahre alt zu sein schien. Ihre Hände zitterten. Die zehntägige Reise über den Atlantik hatte sie deutlich erschöpft. Jetzt erreichte der Stress seinen Höhepunkt. Der Zweite Offizier Johann Kröger und Doktor Salo Matheus beobachteten sie aufmerksam. Es fiel ihnen schwer zu glauben, dass die Zahl 46 in der Rubrik „Alter“ kein Irrtum oder Betrug war. Sie dachten jedoch nicht lange darüber nach. Eine Herabsetzung des Alters schadete dem Staat nicht. Etwas anderes war es, wenn das Alter nach oben gefälscht wurde. Nach einer kurzen Begutachtung und einem gegenseitigen Nicken stempelte Doktor Matheus auf den Zettel das ersehnte „Admitted“, wohl das bekannteste englische Wort der Welt.


Ein Ausschnitt der Passagierliste der S.S. Amerika. Unter der Nummer 18 wurde Michael eingetragen
Ein Ausschnitt der Passagierliste der S.S. Amerika. Unter der Nummer 18 wurde Michael eingetragen

Jetzt war er an der Reihe. Michael richtete sich auf und holte tief Luft. Er trat vor den Holztisch, an dem Kröger und Matheus schon seit vielen Stunden arbeiteten. Er legte den Karton mit der Aufschrift „Ausweis“ und die abgezählten 25 Dollar auf die Platte. Er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. – Alter? – fragte Kröger auf Deutsch. – Siebzehn – antwortete Kukuczka höflich. – Geburtsort? – kam die zweite Frage. – Jaworzynka in Österreich – lautete die Antwort. – Schreiben und lesen kannst du? – Ich kann. – Warst du schon einmal in den Vereinigten Staaten? – Nein.

Er antwortete präzise, ohne etwas hinzuzufügen, wonach der Befrager nicht gefragt hatte. Solche Anweisungen hatte ihm sein älterer Bruder gegeben, der schon früher ausgewandert war. – Final destination? – erinnerte Matheus Kröger auf Englisch. – Ach ja. Reiseziel? – kehrte dieser zu seinem strengen Ton zurück. – Duquesne, Pennsylvania.


Der Doktor begutachtete Michael flüchtig. Man sah sofort, dass er gesund war. Jakob und Eva, die Eltern des Jungen, achteten auf die Sauberkeit und Hygiene ihrer Kinder. Das hatte man in Schlesien so gelernt. Das hübsche, hölzerne Haus der Kukuczkas am Waldrand war gepflegt, und der Hof war ordentlich. Sie lebten gut. Umso schwerer fiel es dem Jüngsten der Geschwister, wegzugehen, obwohl ihm Paul, der ältere Bruder, schon einige Jahre zuvor den Weg geebnet hatte. Es gab keinen Brief, in dem Paul Michael nicht zur Reise ermutigt hätte. Er beschrieb die Vereinigten Staaten als die einzige Möglichkeit für eine würdige Zukunft. Damit lag er nicht weit von der Wahrheit entfernt. Den ganzen Besitz, den die Familie „Szkawlonka“ nannte, sollte der Älteste der Geschwister, Josef, erben. Ein ungeschriebenes Gesetz besagte, dass nur ein Kind das Vermögen übernahm. So vermied man eine Zersplitterung. Die anderen mussten sich meist ihr Glück in der Industrie suchen. Weit hatten sie es nicht, denn nur einige Kilometer von ihrem Haus entfernt bot das Trzynietzer Eisenwerk, das größte Hüttenwerk der ganzen österreichisch-ungarischen Monarchie, Arbeit. Paul und nun auch Michael entschieden sich jedoch für eine „Karriere“ jenseits des großen Wassers.

Istebna zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Istebna zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Der April war schließlich gekommen. Michael sollte aus der Gegend von Istebna aufbrechen. Als er zum letzten Mal die Schwelle des Elternhauses überschritt, konnte Eva, seine Mutter, ihre Tränen nicht zurückhalten. Sie drückte ihn noch einmal an sich. Sie vergewisserte sich hundertfach, dass er ein Brotlaib und getrocknete Wurst mitgenommen hatte. Sie sollten ihn vor Hunger auf dem Weg nach Hamburg bewahren. Der Jugendliche wischte ihr die Tränen vom runzligen Gesicht. Er blickte auf seinen Vater Jakob, seinen Bruder Josef, dessen Frau Marianna und den einjährigen Johann, den Neffen, der das ganze Aufhebens nicht verstand. Er lächelte. So wollte er in Erinnerung bleiben. Als er das lauter werdende Schluchzen der Mutter hörte, entfernte er sich schnellen Schrittes, um einen Tränenausbruch zu vermeiden — was man in Schlesien nicht für angebracht hielt.


Als er schon auf der Kutsche saß und in Richtung Bahnhof in Nawsa fuhr, beschien die Aprilsonne seine Schläfe. Das sollte der Ausgleich dafür sein, dass er das hölzerne Häuschen am Waldrand zurückließ, das die Erinnerung an eine ruhige Kindheit bewahrte. Es wurde ihm klar, dass er dorthin nicht zurückkehren würde. Er begriff, dass er die nächsten Falten im Gesicht der Mutter nicht sehen würde. Dass er die ersten Worte aus dem Mund des Neffen nicht hören und kein Mädchen aus der näheren oder ferneren Umgebung heiraten würde. Er steuerte dorthin, wo er sich nur auf seinen Bruder verlassen konnte.


Die Reise zum Hafen in Hamburg, die mehrere Umstiege erforderte, erschöpfte den Siebzehnjährigen, doch die Aussicht auf ein Leben in der Neuen Welt rechtfertigte alle Unannehmlichkeiten. Er fragte sich, wie das sagenumwobene Amerika aussah. Sein Land, die österreichisch-ungarische Monarchie, häufte Krisen an, beschenkte mit Preiserhöhungen und servierte politische, nationale oder religiöse Konflikte. Jenseits des großen Wassers, so hieß es, gab es diese Probleme nicht. Dort sollten Gleichheit, Freiheit und Demokratie herrschen — der amerikanische Traum.

S.S. Amerika
S.S. Amerika

An Bord ging er am 14. April 1910. Die S.S. Amerika beeindruckte den Jugendlichen, der bisher von schwimmenden Gefährten nur ein Floß auf der Olsa in Teschen gesehen hatte. Das Schiff war ein solides Werk der deutschen Industrie. Es rühmte sich mit einem elektrischen Aufzug und einem À-la-carte-Restaurant. Doch Gelegenheit, diese Annehmlichkeiten zu nutzen, hatten nur die Passagiere der ersten und zweiten Klasse. Michael begnügte sich mit dem Rest der trockenen Wurst und drei einheitlichen Mahlzeiten am Tag.


Zehn Tage Reise über den Atlantik reichten aus, damit die Gesellschaft der dritten Klasse erfolgreich ihr eigenes Mikroklima entwickelte. Die Herkunft, wie es bei Europäern üblich war, wurde zum Maßstab dafür, wer unter Deck besser und wer schlechter war. Michael gehörte, als österreichischer Schlesier auf einem deutschen Schiff, zur privilegierten „dritte-Klasse-Elite“. Dieser Umstand kam dem verängstigten und von der allzu intensiven Modernität eingeschüchterten Jungen zugute. Er lebte einigermaßen ruhig und ausreichend versorgt, denn selbst die Küche behandelte die deutschsprachigen Passagiere der dritten Klasse großzügiger.


Am 24. April 1910 liefen sie in New York ein. An diesem Tag kamen dort zwei Schiffe an – die S.S. Amerika aus dem deutschen Hamburg und die S.S. Yumuri aus dem kubanischen Cienfuegos. Die Passagiere der ersten und zweiten Klasse durften nach einer kurzen Kontrolle sofort ihren Fuß auf das gelobte Land setzen. Man nahm an, dass jemand, der sich ein besseres Ticket leisten konnte, dem Staat nicht zur Last fallen würde. Armut ging nicht mit Vertrauen einher, deshalb setzte man die übrigen auf kleine Fähren um und brachte sie nach Ellis Island. So erging es auch Michael. Er und Tausende anderer Passagiere beider Schiffe wurden in kilometerlangen Schlangen in der „Great Hall“ aufgestellt. Diesen Ort nannte man „Insel der Tränen“, weil dort nicht selten der „amerikanische Traum“ endete, wenn die Papiere der „Unerwünschten“ mit einem Stempel und dem Wort „Rejected“ versehen wurden.


Pierwszą selekcję zapewniała kreda. To nią zaznaczano ‘wątpliwe’ osoby. W zależności od diagnozy, ‘potencjalne zagrożenie dla USA’ kierowano do lekarza bądź psychiatry. Ci drudzy mieli przygotowane specjalne testy i zagadki logiczne dla 'wątpliwych'. Uznani za obciążenie dla USA wracali do swoich krajów.


Glücklicherweise wurde Michael nicht mit Kreide markiert. Ein Zusammentreffen von Umständen und langjährigen Vorurteilen führte dazu, dass die S.S. Amerika mit ihren Passagieren weniger Aufsehen erregte als die Ankömmlinge aus Kuba. Der Papp‑„Ausweis“ des österreichischen Passagiers von einem deutschen Schiff war ein Pluspunkt. Schlesien war in Amerika gut angesehen. Ingenieure, die Bergwerke, Hütten oder andere Industriezentren entwickelten, griffen auf Publikationen schlesischer Ingenieure zurück. Besonders in Pittsburgh, wo die Industrie von Einwanderern aus dem weiten deutschen Raum dominiert wurde, genossen sie Ansehen, und jeder Neuankömmling galt als Experte. Dorthin wollte Michael gelangen. Nicht wegen der Gemeinschaft. Er wollte bei seinem Bruder sein.

„Great Hall“ im Gebäude auf Ellis Island
„Great Hall“ im Gebäude auf Ellis Island

Die schwarze Tinte des auf den Papierfetzen gestempelten Wortes „Admitted“ ließ ihn aufatmen. Noch vor kurzem war er ein Junge gewesen, der wegen seiner späten Geburt der Letzte in der Reihe um das Erbe war. Ein Pech, würdig eines Prinzen, wenn auch in schlesischer, bergbäuerlicher Ausführung. Das schwarze „Admitted“ verabschiedete ihn von dem Schicksal des Jüngsten. Jetzt begann er ein neues Leben.

Einwanderer auf Ellis Island, die nach Manhattan blicken
Einwanderer auf Ellis Island, die nach Manhattan blicken

Obwohl Mutter, Vater, Bruder, Schwägerin und sogar der einjährige Neffe Michaels Abwesenheit spürten, atmete er die „Luft der großen Welt“. Er blickte auf die Skyline von Manhattan. Obwohl man ihm zuvor eingetrichtert hatte, dass er im Herzen Europas lebte und Schlesien das unverzichtbare und wichtigste Antriebsrad des Fortschritts sei, erkannte er, dass er jetzt im Zentrum der Welt war. In New York wirkte alles größer, besser, wohlhabender. Vor dem neuen Leben lag nur noch der Weg zum Hauptbahnhof, wo der geliebte Bruder Paul auf ihn wartete.


Szkawlonka in Jaworzynka, in Schlesien. Von hier stammte Michael Kukuczka
Szkawlonka in Jaworzynka, in Schlesien. Von hier stammte Michael Kukuczka

Schließlich begann die Sonne über New York zu verlöschen. Über seinem Elternhaus herrschte schon seit einigen Stunden Dunkelheit. In Michaels Gedanken erschien das Bild des Gesichts seines Vaters und seiner Mutter. Bisher verbrachten sie das Verlöschen der Sonne immer zusammen. Im Streit, in Liebe, in Kränkung, in Sehnsucht – aber immer nebeneinander. Diesmal gab es diese Perspektive nicht. Zum ersten Mal brachte der Sonnenuntergang das Bewusstsein eines Abschieds für immer. Michael blickte nach oben. Er sehnte sich, aber er wusste, dass ihn gleich sein Bruder retten würde. Der rosafarbene Himmel sah genau so aus wie in Schlesien. Dieselben Wolken, dieselben Farben. Er fand, dass er trotz der mehrtägigen Reise nicht zu weit von zu Hause sein konnte. Der Himmel hatte sich nicht verändert. Er beruhigte seinen Atem. Wurde still. Das war sein erster Tag eines neuen Lebens. Michael Kukuczka war Amerikaner geworden.


Autor: Jonasz Milewski





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